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Diese Betrachtungen werden das Festhalten an unserem geliebten EGO zu einer stufenweisen Entspannung führen. Wenn wir so aufhören, die ICH-Illusion zu umarmen, wird der Zustand erreicht werden, wo der Geist diese Anziehungskraft des ICHs ganz loslassen kann. Dann werden wir fähig sein, dem Phänomen Tod gefaßt und ruhig ins Auge zu schauen.

Das Gesetz der Vergänglichkeit

Wir haben gesehen, wie Betrachtungen über das Gesetz des Kamma und der Gruppen oder sankhâra zu einer korrekten Sichtweise über den Tod verhelfen können und uns weiterhin unterstützen, dem Tod mit einer angemessenen Einstellung zu begegnen. Da gibt es noch ein weiteres Gesetz, dessen Kenntnis in ähnlicher Weise hilfreich sein kann. Es ist das Gesetz der Vergänglichkeit oder auf Pali: Anicca.

Es ist das Prinzip, das der Ersten Edlen Wahrheit vorgeschaltet ist, der Wahrheit vom Dukkha[1]. Wegen dieser Vergänglichkeit oder der Abwesenheit von Beständigkeit, gibt es dieses Leiden, diese Unausgewogenheiten und Unzulänglichkeiten auf dieser Welt. Das Prinzip der Vergänglichkeit ist durch die bekannte Formel beschrieben:

Alle bedingt entstandenen Erscheinungen sind vergänglich.[2]

Nichts auf dieser Welt ist stabil oder statisch. In der Zeit bewegt sich alles, ob es uns gefällt oder nicht. Nichts auf dieser Welt kann das ‘Fließen’ der Zeit anhalten, und niemand kann Zeit überleben. Nirgendwo gibt es Stabilität. Vergänglichkeit und Veränderungen beherrschen die Welt. Deshalb sind alle geistigen und körperlichen Prozesse vergänglich und flüchtig. Veränderungen mögen langsam oder schnell vor sich gehen, wahrnehmbar oder unwahrnehmbar sein - jedoch etwas wie Stillstand gibt es in dieser bedingten, sich ständig ändernden Welt nicht. Auch wir, als Teil dieser Welt, verändern uns ständig.

Ein sankhâra, so haben wir erfahren, ist eine Verbindung von verschiedenen Faktoren. Diese Faktoren sind auch Gegenstand der Vergänglichkeit. Sie sind in sich unbeständige Faktoren. Deshalb ist ein sankhâra nicht nur eine Verbindung von verschiedenen Faktoren, sondern eine sich ständig ändernde Verbindung von sich verändernden Faktoren - und auch diese Verbindung verändert sich ständig.

Weil es Veränderung gibt, gibt es Wachstum - weil es Veränderung gibt, gibt es Zerfall. Wegen der Vergänglichkeit führt Wachstum zu Verfall.

Warum müssen einst blühende Blumen welken? Weil das Gesetz der Vergänglichkeit immer wirkt! Wegen diesem Gesetz muß die Kraft der Jugend dem Alter weichen. Große Gebäude so hoch wie die Wolken erbaut, müssen eines Tages wanken und fallen. Dieser Aspekt des Gesetzes der Vergänglichkeit, der ständige Prozeß der Auflösung, läßt Farben verbleichen, Eisen verrosten und Bäume verrotten. Es müssen diese Betrachtungen gewesen sein, die den Poeten Gray bei der Kontemplation eines Friedhofes folgende Worte sagen ließen:

Der Stolz großer Symbole -

Der helle Prunk der Macht -

Was Glanz und Wohlstand - Uns je gab -

In gar nicht langer Zeit -

Führt der Weg der grössten Herrlichkeit -

auch nur bis zum Grab.-

Oft ist das Wirken dieses Gesetzes nicht gleich offensichtlich. Sogar ein Felsengebirge, das so fest und solide erscheint, wird nicht immer so bleiben. Die Wissenschaft bestätigt uns, daß vielleicht in vielen tausend Jahren auch dieses Felsengebirge dem Prozeß der Vergänglichkeit anheim gefallen ist. Und da wo heute ein See ist, war vielleicht einst ein Berg.

Der Buddha sagt: Was entstanden ist - muß vergehen![3]

Vor vielen ‘Weltperioden’ waren die Erde und der Mond eins. Heute ist die Erde immer noch ein warmer und belebter Planet, während der Mond schon lange erkaltet und tot ist. Auch die Erde, so sagt die Wissenschaft, verliert langsam aber sicher ihre Wärme und das Wasser. Langsam und allmählich kühlt sie ab. In einigen Äonen wird sie kein Leben mehr tragen. Sie wird ein kalter, lebloser Planet sein, vielleicht ein zweiter Mond. Dies ist nur eins von vielen Beispielen, wo das mächtige Gesetz der Vergänglichkeit seine ‘Arbeit’ verrichtet. Der Buddha hat also auch das Ende dieser Welt vorausgesagt.

So wie das Gesetz der Vergänglichkeit Niedergang und Zerfall bewirkt, so verursacht es auch Wachstum und Fortschritt. Deshalb wird ein Same zur Pflanze, eine Pflanze zum Baum und Knospen zu Blumen. Und noch einmal: Es gibt auch im Wachstum keine Beständigkeit. Pflanzen müssen sterben und Blumen verwelken. Ein nicht endender Kreislauf von Geburt und Tod, von Verbindung und Auflösung - Entstehen und Vergehen. So sagt Shelly in angebrachter Weise:


[1]Leiden, Leidunterworfensein, Unzulänglichkeit, Elend, Übel.

[2]Anicca vata sankhâra.

[3]Uppajjitvâ nirujjhanti.

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